GVG-Perspektive Nr. 1 - Meinungsbeitrag von Prof. Dr. Ulrich Walwei

Arbeitskräftemangel in Zeiten des demografischen Wandels: Ein Teil der Lösung liegt bei den Älteren

Meinungsbeitrag von Prof. Dr. Ulrich Walwei (Vizedirektor am IAB )

24.09.2024
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Aufgrund der demografischen Entwicklung wird das Arbeitskräfteangebot zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit sinken. Wesentlicher Grund hierfür ist, dass die Kohorte der jungen, in den Arbeitsmarkt nachrückenden Personen kleiner ausfällt als die Größe der älteren, aus dem Arbeitsmarkt ausscheidenden Gruppe. Es dürfte längerfristig kaum gelingen, die Lücke durch eine noch höhere Erwerbsbeteiligung und eine noch stärkere (Netto-)Migration vollständig auszugleichen. Die demografische Entwicklung geht nicht nur mit einem Mengenproblem einher, denn die Babyboomer verfügen über einen vergleichsweise hohen Bildungsstand. Rund 80% der ausgesprochen starken Kohorte haben mindestens einen Ausbildungsabschluss, wodurch sich in den nächsten Jahren ein massiver potenzieller Ersatzbedarf ergeben wird (Sozialpolitik-aktuell 2023). Aus sozialpolitischer Sicht ist zudem zu würdigen, dass sich in Folge der demografischen Entwicklung der Altenquotient verschlechtern wird und damit die Finanzierungsgrundlage der Rentenversicherung gefährdet wird. Hintergrund hierfür ist, dass sich die Relation der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und rentenbeziehenden Personen kontinuierlich verschlechtert.

Ein Hebel, um den drohenden Arbeits- und Fachkräftemangel zu entschärfen, besteht darin, Ältere länger im Erwerbsleben zu halten. Modellrechnungen zeigen, dass die Potenziale beträchtlich sind (Weber 2023). Würde die Erwerbsbeteiligung der 60-64-Jährigen auf das heutige Niveau der 55-59-Jährigen und das der 65-69-Jährigen auf das heutige Niveau der 60-64-Jährigen steigen, ergäbe sich bis 2035 ein zusätzliches Potenzial von 2,4 Mio. Personen. Dies wäre der Löwenanteil (rund 70%) dessen, was man insgesamt durch eine höhere Erwerbsbeteiligung (u.a. auch von Frauen) an Personalreserven generieren könnte. Damit stellt sich die Frage, ob eine Erhöhung der Arbeitsmarktpartizipation von Älteren realistisch ist. Um dies einschätzen zu können, bedarf es zunächst einer Bestandsaufnahme.      

In der Vergangenheit hat die Erwerbstätigkeit Älterer beträchtlich zugelegt. Das gilt für alle Gruppen mit einem Lebensalter von 50 Jahren oder älter. Während sich die Erwerbstätigenquote der 50-54-Jährigen inzwischen kaum noch von der der Jüngeren unterscheidet, sieht man bei den Über-55-Jährigen geringere Werte.

Ursachen für die steigende Erwerbstätigkeit Älterer

Die Gründe für den Aufwärtstrend sind vielfältig (Walwei 2018). Zunächst einmal stärkt eine insgesamt positive Arbeitsmarktentwicklung tendenziell die Beschäftigungssituation aller Altersgruppen. Nach den vorliegenden Daten profitierten die Älteren in dieser Hinsicht am stärksten vom Arbeitsmarktaufschwung nach 2005. Des Weiteren sind zwei soziodemografische Trends zu berücksichtigen, die der Beschäftigung Älterer zugutekommen. Zum einen führt die seit einigen Jahrzehnten kontinuierlich wachsende Frauenerwerbsbeteiligung dazu, dass es inzwischen für Frauen auch im Alter selbstverständlicher geworden ist, weiter am Arbeitsmarkt teilzuhaben. Zum anderen hat das Qualifikationsniveau der Erwerbspersonen im Zeitablauf zugelegt (Bosch 2011; Buslei et al. 2018). Der Anteil der Akademiker in der Erwerbsbevölkerung stieg und der entsprechende Anteil der Geringqualifizierten sank. Da höhere Qualifikation auch mit längerfristig höheren Arbeitsmarktchancen einhergeht, begünstigt dies den Beschäftigungstrend zugunsten der Älteren.

Von großer Bedeutung sind schließlich institutionelle Rahmenbedingungen, welche hierzulande die Weichen in Richtung einer stärkeren Arbeitsmarktpartizipation Älterer gestellt haben (Steiner 2017). Zu erwähnen sind hier rentenpolitische Entscheidungen, wie etwa die Einführung der „Rente mit 67“ oder auch arbeitsmarktpolitische Reformen wie die Einführung der Grundsicherung (Hartz IV), die einen vorzeitigen Ausstieg von Arbeitslosen aus dem Erwerbsleben erschwert haben. Ein wichtiges Indiz dafür, dass die institutionellen Änderungen Effekte ausgelöst haben dürften, ist der empirische Befund, dass die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung der Älteren vor allem zugenommen hatte, weil weniger (vorzeitige) Abgänge zu verzeichnen waren (Dietz/Walwei 2011; Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2022). Lediglich die 2014 in Kraft getretene „Rente mit 63“ wirkte den Anreizen zu einer stärkeren Arbeitsmarktpartizipation Älterer entgegen. Langjährig Versicherte können seither ohne Abschläge zu einem früheren Zeitpunkt in Rente gehen.

Herausforderungen für ältere Beschäftigte am Arbeitsmarkt

Die günstige Entwicklung der Älteren am Arbeitsmarkt darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Alter weiterhin als ein Risikomerkmal am Arbeitsmarkt zu betrachten ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn ältere Arbeitskräfte einmal ihren Arbeitsplatz verloren haben oder aber von unstetigen Erwerbsbiografien betroffen sind. So zeigt sich, dass sich selbst in dem langgezogenen Arbeitsmarktaufschwung in den 2010er Jahren die Zugangsraten Älterer in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nicht nennenswert erhöht haben. Auch Analysen zu den Abgangschancen von Leistungsempfängern im SGB II legen nahe, dass (ein höheres) Alter unter Kontrolle weiterer soziodemografischer Merkmale den (Wieder-)Einstieg in eine existenzsichernde Beschäftigung erschwert (Beste/Trappmann 2016). Die Beschäftigungschancen älterer Arbeitsloser werden weiter dadurch geschmälert, dass sie im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen weniger häufig an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnehmen, häufiger langzeitarbeitslos sind und in stärkerem Maße mit gesundheitlichen Problemen konfrontiert sind (BA-Statistik 2019).

Die Bedeutung von Bildung, Qualifikation und Gesundheit für die Erschließung des Potentials älterer Erwerbspersonen

Die Erschließung der künftig notwendige Potentiale älterer Erwerbspersonen für die Fachkräftesicherung bedarf eines Dreiklangs. Dazu zählen erstens die Entwicklung der Beschäftigungsfähigkeit auf individueller Ebene, zweitens die Attraktivität des Arbeitsmarktes für die Gruppe der Älteren und drittens renten- und sozialpolitische Regelungen.

Die Beschäftigungsfähigkeit bis hinein ins höhere Alter erfordert gute Bildung und Qualifikation einerseits und gesundheitliche Stabilität andererseits. Ein leistungsfähiges und gleichermaßen inklusives System der Bildung und Ausbildung sowie die Möglichkeit wie auch die Befähigung zu lebenslangem Lernen sind für den qualifikatorischen Teil der langfristigen, individuellen Beschäftigungsfähigkeit essentiell. Gesundheitliche Vorsorge ist das andere wesentliche Element zur Ermöglichung eines langen Erwerbslebens. Auch hier geht es wie im Bildungsbereich um präventive Ansätze, denn die Weichen für den Erhalt der Gesundheit und damit einer langen Erwerbsfähigkeit werden früh gestellt.

Hohe Erwerbstätigenquoten Älterer werden aber nicht nur durch die individuelle Beschäftigungsfähigkeit begünstigt, sondern sind auch von der Attraktivität des Arbeitsmarkts abhängig und damit von den für die Erwerbspersonen in Frage kommenden Beschäftigungsmöglichkeiten. Zu allererst ist hier ein möglichst aufnahmefähiger Arbeitsmarkt zu nennen, von dem Menschen aller Altersgruppen profitieren. Je mehr es darüber hinaus den Betrieben gelingt, Kompetenzen und Fähigkeiten der Älteren zu adressieren, alters- und alternsgerechte Arbeit zu organisieren, den bereits erwähnten Arbeitsschutz zu stärken und flexibel auf Beschäftigtenwünsche (z.B. mit Blick auf die Arbeitszeit) einzugehen, desto größer ist die Chance, Ältere am Arbeitsmarkt zu halten oder zurückzugewinnen.

Bei der Ausgestaltung der Regulierungen geht es vor allem darum, Arbeitsanreize für Ältere in angemessener Weise aufrechtzuerhalten und ggf. zu stärken. Bestimmungen, die den Rückzug von älteren Erwerbspersonen vom Arbeitsmarkt begünstigen, ohne dass dafür zwingende Gründe (wie z.B. schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen) vorliegen, entziehen dem Arbeitsmarkt Arbeitskräfteangebot und sind damit längerfristig nicht zielführend. Regelungen wie die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für Ältere oder auch Karenzzeiten mit Blick auf Vermögen und angemessenem Wohnraum im Rahmen des Bürgergelds müssen daher mögliche negative Auswirkungen auf die Arbeitsanreize im Alter ausdrücklich ins Blickfeld nehmen. Auch das Arbeitsrecht kann sich negativ auf Beschäftigungsanreize auswirken, wenn etwa Befristungen von rentenbeziehenden Älteren bei der Wiederbeschäftigung im letzten Betrieb vor dem Rentenzugang eingeschränkt werden. Eine somit indirekte Vorgabe zur Weiterbeschäftigung schränkt personalpolitische Dispositionen ein. Schließlich sind auch tarifvertragliche Regelungen oder betriebliche Vereinbarungen, die einen Erwerbsaustritt „erzwingen“, nicht mehr zeitgemäß.

Ein Fixpunkt für Erwerbsentscheidungen im Alter ist und bleibt aber auch hierzulande das Rentenzugangsalter. Die Rente mit 67 hatte in 2012 ein wichtiges Signal gesetzt, nämlich dass es möglich sein kann, Erwerbstätigkeit im Alter hoch zu halten und zu steigern. Als kontraproduktiv in dieser Hinsicht erwies sich dagegen die ab Mitte 2014 in Kraft getretene Rente für langjährig Versicherte mit 63, denn durch diese Entscheidung erhielten Fachkräfte aus der bevölkerungsstarken Gruppe der Babyboomer die Möglichkeit, ohne Abschläge vorzeitig in den Ruhestand zu gehen und diese Option wird nach den vorliegenden Erkenntnissen genutzt. Analysen zufolge profitieren hiervon im Durchschnitt jedoch weniger gesundheitlich stark beanspruchte Arbeiter/innen als vielmehr Versicherte mit höheren Rentenansprüchen (Börsch-Supan et al. 2014). Die „Rente mit 63“ verschärft momentan die Mangelsituation in nicht wenigen Segmenten des Arbeitsmarktes.

In der nahen Zukunft ist darüber zu entscheiden, wie es mit dem Rentenzugangsalter weitergehen sollte. In 2031 endet die Anpassungsfrist für die schrittweise Anhebung der Rente auf 67 Jahre und auch die Rente für langjährig Versicherte ist dann bei 65 Jahren angekommen. Aufgrund der erwartbar wachsenden Lebenserwartung läge es nahe, mit einer behutsamen Anpassung nach oben fortzufahren. Eine Rente mit 70 wäre dann – je nach Anpassungsschritt – zwischen 2050 und 2060 erreicht. Bei den Anpassungen sollte aber nicht nur im Auge behalten werden, dass sich die Lebenserwartung der Individuen verlängert, sondern auch und gerade die Frage, ob die Entwicklung der Zahl der gesunden Jahre in einem Leben mit der wachsenden Lebenserwartung Schritt hält.  Die Altersgruppe der 55-59-Jährigen erreichte in 2021 mit gut 80 Prozent nahezu den Wert jüngerer Altersgruppen und legte seit 1991 um mehr als 25 Prozentpunkte zu. Noch stärker fiel der Aufwuchs in der Altersgruppe der 60-64-Jährigen aus. Hier verdreifachte sich die Quote von 20 Prozent in 1991 auf über 60 Prozent in 2021, liegt aber damit immer noch deutlich unterhalb der Erwerbstätigenquoten der jüngeren Altersgruppen. Eine aufwärtsgerichtete Entwicklung zeigt sich ebenfalls - wenn auch auf einem deutlich niedrigeren Niveau - bei der Gruppe der überwiegend rentenbeziehenden Personen, nämlich der 65-74-Jährigen. Hier lag die Erwerbstätigenquote 2021 bei knapp 13%.

Prof. Dr. Ulrich Walwei ist Vizedirektor am IAB und Honorarprofessor für Arbeitsmarktforschung am Institut für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie der Universität Regensburg.

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