Meinungsbeitrag von Prof. Dr. med. Hans Martin Hasselhorn, Leiter des Fachgebiets Arbeitswissenschaft, Bergische Universität Wuppertal
Viele ältere Beschäftigte verlassen frühzeitig das Erwerbsleben. Gesundheit und Arbeitsbedingungen spielen eine Rolle, aber der wichtigste Aspekt ist die Motivation. Dieser Aspekt sollte mehr Aufmerksamkeit in Betrieben und Politik erhalten.
Arbeitskräftemangel und Kultur des Frühausstiegs
Da den Betrieben in Deutschland zunehmend Beschäftigte fehlen, steigt auch das Interesse, ältere MitarbeiterInnen länger als bisher im Haus zu halten. Dem steht jedoch entgegen, dass unter dn geburtsstarken Jahrgängen der „Babyboomer“ in Deutschland nach wie vor eine ausgeprägte „Kultur des Frühausstiegs“ vorherrscht: aktuelle Zahlen unserer repräsentativen lidA-Studie (www.lida-studie.de; www.uni-w.de/e5v4e) zeigen, dass nur etwa 15 Prozent von ihnen bis zum gesetzlich vorgesehenen Renteneintrittsalter erwerbstätig sein wollen. Dagegen wünschen sich genau zwei Drittel, bereits vor dem 65. Lebensjahr aus dem Erwerbsleben auszusteigen. Die dominierenden Gründe für den Wunsch nach dem Frühausstieg sind Selbstbestimmung im Leben und das Gefühl eines Anspruches auf die (frühe) Rente. Auch belastende Arbeitsfaktoren und schlechte Gesundheit spielen eine Rolle, aber lediglich für weniger als die Hälfte aller Befragten (Hasselhorn und Ebener 2023).
Warum gehen die Babyboomer so früh in den Ruhestand – und was bedeutet das für Betriebe?
Nach wie vor entscheiden sich die meisten Babyboomer für einen frühen Erwerbsausstieg, meist deutlich vor der Regelaltersgrenze. Auch wenn die Erwerbsquote der Bevölkerung im Alter von 55 bis 64 Jahren in Deutschland in den letzten 25 Jahren deutlich zugenommen hat, stagniert sie für die Altersjahrgänge, die sich einige Jahre vor der Regelaltersgrenze befinden. So liegt die Erwerbsquote 64-jähriger Männer seit 2013 recht stabil bei etwa 40 % und die der 64-jährigen Frauen seit 2017 bei gut 30 % (BiB 2022). Fragt man nach einem vollzogenen frühen Erwerbsaustritt nach den Gründen hierfür, liegen diese meist im Privatleben der Befragten, nur wenige haben unmittelbar mit ihrer Arbeit zu tun. Wieder spielt die Gesundheit eine Rolle, aber nicht die bedeutendste (Hasselhorn und Ebener 2023). Hinzu kommt, dass viele ältere Beschäftigte es sich finanziell leisten können, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen; bei den 63-Jährigen sind dies 55 % (unveröffentlichte lidA-Ergebnisse).
Eine zentrale Schlussfolgerung aus den genannten Beobachtungen ist, dass es Betrieben, die ihre älteren MitarbeiterInnen länger in Beschäftigung halten möchten, gelingen muss, dass sie dies tatsächlich wollen. Ein Ansatzpunkt wäre dabei, deren Arbeit für sie deutlich attraktiver zu machen.
Weiterarbeit ist für viele denkbar
LidA-Ergebnisse legen nahe, dass unter den Babyboomern trotz der ausgeprägten Frühausstiegskultur das Potenzial für längeres Erwerbstätigsein groß ist. So wären die meisten derer, die eigentlich frühzeitig aussteigen möchten, unter Umständen doch bereit, länger zu arbeiten. Dies insbesondere dann, wenn die Arbeitsbedingungen verbessert würden, nicht zuletzt durch höheren Entscheidungsspielraum. Selbst unter den Teilnehmenden, die bereits frühzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, zeigen zwei Drittel eine grundsätzliche Bereitschaft zur erneuten Aufnahme von Erwerbsarbeit. Voraussetzungen hierfür ist insbesondere, dass sie selbst bestimmen können, wie viel und wann sie arbeiten.
„Mitarbeitergespräche über die letzten Arbeitsjahre“
Der Übergang in den Ruhestand ist kein Schritt von heute auf morgen, sondern ein meist langer Prozess, der mit ersten Überlegungen, Abwägungen und Abklärungen beginnt. Schließlich wird eine Entscheidung gefällt, worauf im Idealfall Planung und Umsetzung erfolgen. Dieser Prozess dauert in aller Regel Jahre. Ergebnisse der lidA-Studie legen nahe, dass bereits im Alter von 51 Jahren 11 % aller Beschäftigten mindestens mehrfach monatlich an den Erwerbsausstieg denken.
Wenn es nun für zunehmend viele Betriebe gilt, ihre älteren Beschäftigten länger zu halten, dann sollte ihnen daran liegen, in einen konstruktiven Diskurs zu den letzten Arbeitsjahren zu kommen. Hierzu schlagen wir regelmäßige „Mitarbeitergespräche über die letzten Arbeitsjahre“ vor, die beispielsweise ab dem Alter von 55 Jahren zu führen sind, und zwar als eigene Gespräche oder als Bestandteil jährlicher Mitarbeitergespräche. Die Themen sollten (mindestens) die
Arbeit der Beschäftigten,
ihre Perspektiven bzgl. Arbeit und Beschäftigung
und – wo möglich – auch relevante private Rahmenbedingungen umfassen.
Solche regelmäßigen Gespräche würden – im Idealfall – gegenseitig Orientierung geben zur weiteren Arbeitstätigkeit der älteren Beschäftigten (Erwartungen, Pläne, Wünsche, Befürchtungen), sie würde beiderseits Denkprozesse zur Arbeit und Beschäftigung anstoßen und letztendlich dazu beitragen, eine gegenseitige Offenheit zur Thematik „die letzten Arbeitsjahre“ entwickeln, die schließlich auch die Abklärung des Zeitpunkts des Erwerbsaustritts ermöglichen könnte.
Das übergreifende Ziel wäre die bessere Anpassung der Arbeitstätigkeit an die Bedürfnisse beider Seiten und damit in aller Regel die Verbesserung der Qualität der letzten Arbeitsjahre, so dass diese von Beschäftigten wie Vorgesetzten weniger als Übergang, sondern vielmehr als wertvolle Lebensjahre angesehen werden können.
Literatur
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, BiB (2022): Renteneintritt der Babyboomer: Für viele ist schon mit 63 Schluss. Pressemitteilung 21/22 vom 10.12.2022 https://www.bib.bund.de/DE/Presse/Mitteilungen/2022/pdf/2022-12-10-Erwerbsbeteili-gung.pdf;jsessionid=BEE89A7E5A3E196CE7DFF18B13E8EA6C.intranet661?__blob=publicationFile&v=7 (Zugriff am 03.07.2024).
Hasselhorn HM, Ebener M (2023) Frühzeitiger Ausstieg der Babyboomer aus dem Erwerbsleben – Ergebnisse der lidA-Studie. Deutsche Rentenversicherung 02/2023, 152-174. Download
Prof. Dr. med. Hans Martin Hasselhorn
Leiter des Fachgebiets Arbeitswissenschaft
Bergische Universität Wuppertal
42097 Wuppertal
Tel. 0202 439 2088
E-Mail: hasselhorn@uni-wuppertal.de
Lehrstuhl: www.arbwiss.uni-wuppertal.de
lidA-Studie: www.lida-studie.de
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