GVG-Perspektive Nr. 11 – Meinungsbeitrag Julian Plottka (Senior Project Manager, Institut für Europäische Politik)

Status-quo-Wahrung oder Schaffung eines souveränen Europas?

Wie Friedrich Merz die EU doch noch aus den Krisen führen könnte.

07.05.2025

Große Erwartungen an die neue deutsche Regierung

Die EU-Partnerstaaten richten große Hoffnungen an die kommende Bundesregierung, nach dem die Ampel-Regierung die von ihr geweckten Erwartungen weit verfehlt hat. In Frankreich besteht Hoffnung, dass die deutsch-französische Eiszeit enden und beide Länder wieder als Motor funktionieren könnten. Besonders die „gaullistische“ Verteidigungspolitik von Friedrich Merz wird als gute Basis für ein souveränes Europa interpretiert. Dass die kommende Koalition eine Vertiefung der deutsch-französischen Kooperation anstrebt und im Format „Weimar+“ erweitern will, deutet auf gegenseitigen Kooperationswillen.

In Polen, wo am 18. Mai ein neuer Präsident gewählt wird, sind die Erwartungen deutlich konkreter. Während die nächste Bundesregierung in der Verteidigungspolitik ebenso als verlässlicher Partner eingeschätzt wird, birgt die Migrationspolitik Konfliktpotential. Die europarechtswidrigen Vorschläge des „Fünf-Punkte-Plans“ u.a. zur konsequenten Zurückweisung an deutschen Grenzen sind von der polnischen Opposition im Wahlkampf instrumentalisiert worden. Der Koalitionsvertrag entschärft diese Forderungen zwar dahingehend, dass Zurückweisungen in Abstimmung mit den Nachbarstaaten und unter Einhaltung geltenden Rechts stattfinden sollen. Diese Abstimmung wird jedoch eine der größten Herausforderung der Merz’schen Europapolitik.

Fehlender Grundkonsens in der Koalition

Die aktuellen globalen (russische Aggression, Krise der transatlantischen Beziehungen, globale Machtprojektion Chinas, Klimawandel, …) und innereuropäischen Herausforderungen (demokratische Regression, gesellschaftliche Spaltung, wirtschaftliche Wachstumsschwäche, zunehmende Ungleichverteilung, Integration von Geflüchteten, …) bedürfen gesamteuropäischer Lösungsansätze. Zu glauben, eine Bundesregierung könne diese Probleme mit europapolitischen Alleingängen wie zu Zeiten Angela Merkels (Atomausstieg, Nord Stream II, Asylpolitik) lösen, ist eine gefährliche Illusion. Deshalb ist die Erwartung an die neue Bundesregierung, dass sie gesamteuropäische Verantwortung übernimmt, gemeinsame Initiativen anstößt und die europäischen Partnerstaaten für diese gewinnt. Ob Friedrich Merz diese integrative Führungsrolle in der EU aber übernehmen kann, wird sich zeigen müssen.

Dazu notwendig wäre eine Rückbesinnung auf die europapolitische Tradition der CDU, wie die christdemokratischen Bundeskanzler von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl sie gepflegt haben. Orientiert am Leitbild der Vereinigten Staaten von Europa haben sie gemeinsam mit französischen Regierungen Integrationsinitiativen ergriffen und dafür die Unterstützung der Partner gewonnen. Seit Ende der 1990er hat sich die CDU jedoch schrittweise von ihrer europapolitischen Tradition distanziert. Das ehemals christdemokratische Leitbild deutscher Europapolitik wird heute von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gepflegt, während zentrale Ziele der CDU-Europapolitik Entbürokratisierung, Subsidiarität und ein Europa nur dort, wo es einen konkreten Mehrwert schafft, sind. Einige Politiker:innen der jüngeren Generation innerhalb der Unionsparteien sollen gar ein transaktionales Verständnis von Europapolitik pflegen.

Zum einen lassen sich die anstehenden Herausforderungen kaum mit weniger Integration sinnvoll angehen, zum anderen zeichnet sich ein Grundsatzkonflikt zwischen den Koalitionsparteien über die Ausrichtung der neuen deutschen Europapolitik ab. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass die Merz’schen Pläne einer Zentralisierung der europapolitischen Koordinierung im Kanzleramt sich nicht im Koalitionsvertrag finden. Dieser hebt das Ressortprinzip hervor.

Europapolitik als Wahrung des Status quo

Diese europapolitischen Differenzen finden sich auch in den fachpolitischen Themen. Mit Blick auf den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU ab 2028 ist positiv zu vermerken, dass die kommende Regierung sich zu einem EU-Haushalt bekennt, der nicht am Status quo orientiert ist, sondern den aktuellen Herausforderungen gerecht wird. Dass zugleich die Kohäsionspolitik für sakrosankt erklärt wird, zeigt, wie begrenzt der Reformwille ist. Wenn alle Regierungen so in die Verhandlungen gehen, wird der nächste MFR wenig mehr als der kleinste gemeinsame Nenner zur Verteidigung nationaler Besitzstände. Was neue Finanzierungsquellen angeht, will die kommende Regierung Vorschläge zur „Einführung neuer Eigenmittel […] konstruktiv prüfen“. Das klingt eher nach koalitionärem Formkompromiss als nach europapolitischem Reformwillen.

In der Sozialpolitik setzt der Koalitionsvertrag europapolitischen Reformen noch deutlichere Grenzen. Das Bekenntnis zu den „Zielen, Werten und Grundsätzen der europäischen Säule sozialer Rechte [ESSR]“ zementiert den Status quo. Das ist eine Absage an eine Lösung des grundlegenden Problems europäischer Sozialpolitik: Die Ziele der ESSR sind unverbindlich, die Kommission kann lediglich Maßnahmen evaluieren, die die Mitgliedstaaten zu deren Erreichung anstreben, diese aber weder zum Handeln zwingen noch selbst tätig werden.

Im Bereich der Stärkung der europäischen Demokratie fällt der Koalitionsvertrag genauso ernüchternd aus. Dass ein bürgernahes Europa, die Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern und die Stärkung der Zivilgesellschaft gefordert werden, ist grundsätzlich zu begrüßen, sollte aber selbstverständlich sein. Die Schaffung der Rechtsform eines europäischen Vereins ist sinnvoll. Auch die angestrebte Reform des europäischen Wahlrechts ist notwendig. Jedoch will die kommende Bundesregierung nur die Einführung einer Sperrklausel und des Auszählverfahrens nach D’Hondt. Weder das Spitzenkandidatenprinzip noch transnationale Listen oder gar die Stärkung des Europäischen Parlaments werden erwähnt. Bürgerbeteiligung wird auf den europäischen Jugenddialog reduziert. Eine gewisse Skepsis gegenüber der partizipativen Demokratie ist sicherlich gerechtfertigt. Sie kann nicht alle Probleme der repräsentativen Demokratie lösen. Angesichts der zunehmenden politischen Polarisierung innerhalb der demokratischen Gesellschaften ist mehr politische Partizipation zur demokratischen Bildung aber eine intergenerationale Herausforderung, der sich zum Beispiel die GVG mit ihrem Generationendialog stellt, und nicht nur eine Aufgabe für die Jugend.

Partizipative Demokratie bietet genau diesen Raum für mehr Dialoge, die die Spaltungen innerhalb der Gesellschaft überbrücken.

Zurück zu den Wurzeln der CDU-Europapolitik

Insgesamt ist der große Startvorteil der kommenden Bundesregierung, dass die Ampel-Koalition von ihren ambitionierten europapolitischen Zielen so wenig umgesetzt hat, dass es eigentlich leicht wäre, besser zu werden. Dass der neuen Bundesregierung ein europapolitischer Grundkonsens fehlt, lässt jedoch erwarten, dass die europapolitische Abstimmung innerhalb der Bundesregierung nicht viel leichter wird. Ob die handelnden Personen, diese Herausforderung besser meistern werden als jene in der letzten Regierung, bleibt zu beobachten. Um eine integrative Führungsrolle in der EU zu übernehmen, fehlen zumindest im Koalitionsvertrag die gemeinsamen Projekte, die ein souveränes Europa schaffen könnten. Die Formelkompromisse and Detailprojekte reichen bei Weitem nicht aus, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Hoffnung gibt jedoch die letzte Grundgesetzreform: Wenn Friedrich Merz genauso schnell zu den traditionellen europapolitischen Leibildern der CDU zurückkehrt, wie er seine finanzpolitischen Grundsätze nach der Bundestagswahl geändert hat, besteht eine Chance, dass Deutschland eine gestaltende Führungsrolle in der EU einnimmt.

Julian Plottka ist Scientific Senior Project Manager am Institut für Europäische Politik in Berlin und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Passau. Mehr Informationen zu Herrn Plottka erhalten Sie hier

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