Impulsvortrag

Impulsvortrag zur Zukunft der sozialen Sicherung von Frau Prof. Dr. Aysel Yollu-Tok (Hochschule für Wirtschaft und Recht)

Prof. Dr. Aysel Yollu-Tok

Sehr geehrter GVG-Vorstand,
sehr geehrte Anwesende,
liebe Verbündete der Sozialpolitik,
vielen Dank für die Einladung.

Ich möchte Sie in meinem Impuls mit in die Vogelperspektive nehmen und mit einer grundsätzlichen These starten:

Der deutsche Sozialstaat ist in seinem Kern so ausgestaltet, dass er sich den Anforderungen der Zukunft anpassen kann. Er kann es jedoch nur, wenn er eine elementare Bedingung erfüllt: der Erhalt der Solidarität in der Gemeinschaft!

Diese Aussagen möchte ich nun etwas ausbuchstabieren:

Vor 75 Jahren wurde über die Ausrichtung des Sozialstaates in der demokratischen Bundesrepublik Deutschland nachgedacht, diskutiert und verhandelt. Das Ergebnis war, dass der Pfad des Bismarckschen Systems eines konservativen Sozialstaats eingeschlagen bzw. wieder eingeschlagen wurde. Dieser Pfad setzt sich aus zwei Kernbestandteilen zusammen: zum einen die normative Ausrichtung des Sozialstaates und zum anderen ihre konkrete bzw. situative Ausgestaltung.

Ich möchte zunächst auf die normative Ausrichtung eingehen: Hierbei handelt es sich um die grundsätzlichen sozialpolitischen Positionen, welche über einen langen Zeitraum Gültigkeit haben. Sie ist die erwünschte bzw. wünschenswerte Vorstellung einer Gesellschaft, wie sie ihr Zusammenleben in Anbetracht existierender sozialer Risiken und Herausforderungen organisieren will. Damit bildet der normative Kern den beständigen Bereich – in anderen Worten das Standbein – des Sozialstaates.

Dieses Standbein baut auf Lebensstandard- und Existenzsicherung auf: Über den Erwerbsstatus erlangen alle sozialversicherungspflichtigen Beschäftigte einen Anspruch auf Leistungen, die dem Äquivalenzprinzip folgen. So wird der Lebensstandard, vor allem in der Arbeitslosen- und der Gesetzlichen Rentenversicherung gesichert. Das Besondere am Sozialversicherungsstaat Deutschland ist aber, dass das Äquivalenzprinzip über das Solidaritätsprinzip ergänzt wird – dies macht sich vor allem in der Bedarfsorientierung innerhalb der Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung bemerkbar. Auch „schlechte Risiken“ sind demnach bedingungslos und ohne zusätzliche Beitragsleistungen abgesichert – und das ist ein Gütesiegel des deutschen Sozialstaates.

Der Sozialstaat – meine Damen und Herren – ist damit nur so gut wie die dahinterstehende Solidarität der Gemeinschaft und wie der Arbeitsmarkt, auf dem sich diese Gemeinschaft befindet. Die Marktwirtschaft wiederum ist auch nur so gut, wie der dahinterstehende Sozialstaat. Eine soziale Marktwirtschaft braucht Institutionen der sozialen Sicherung, sie schützt die Arbeitskraft gegen vorzeitigen Verschleiß, sie verbessert die qualifikatorische Leistungsfähigkeit, sie fördert die Leistungsbereitschaft und Innovationen und sie schafft Akzeptanz und Stabilität des politischen Systems.

Kommen wir nun zur situativen Ausgestaltung des Sozialsystems. Damit ist das operative Geschäft gemeint, d.h. die Art und Weise der Erfüllung des sozialstaatlichen Kernauftrags. Ändern sich ökonomische, ökologische oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen, so ändern sich die Teilhabechancen in einer Gesellschaft; um weiterhin Sicherheit und Teilhabe zu gewährleisten, sind situative Anpassungsreformen nötig – Reformen sind hierbei nichts Außergewöhnliches, der Sozialstaat im Allgemeinen und das Sozialversicherungssystem im Speziellen sind Politikfelder, die gerade von den sich ständig in Bewegung befindenden Rahmenbedingungen abhängen, aber diese auch mitgestalten.

Welchen Herausforderungen sieht sich der Sozialstaat heute gegenüber? Aktuell finden mehrere parallele Megatrends statt, die das Sozialversicherungssystem vor finanzielle, individuelle und institutionelle Herausforderungen stellt.

Allen voran setzt ERSTENS der demografische Wandel die soziale Sicherung unter starken Druck. Das brauche ich sicherlich an dieser Stelle nicht ausführen. Zudem muss ZWEITENS der flexibilisierte und deregulierte Arbeitsmarkt die Folgen der Tertiärisierung, die seit den 70er Jahren Einzug hält, bewältigen. DRITTENS der digitale Transformationsprozess. Die Digitalisierung ist so gesehen nichts Neues, denn digitale Technologien verändern unsere Arbeitsabläufe seit den 30er/40er Jahren. Das neue an der heutigen Digitalisierung ist ihre Datengetriebenheit, die nicht nur Arbeitsabläufe verändert, sondern neue Arbeitsprozesse sowie neue Geschäftsmodelle erst ermöglicht. Neue Kommunikationswege entstehen, Erwerbsarbeit und Privatleben verschwimmen zunehmend, neue Arbeits- und Arbeitszeitmodelle sind möglich. All diese Veränderungen schaffen neue Vulnerabilitäten, auf die der Sozialstaat reagieren muss. SCHLIEßLICH die Auswirkungen des Klimawandels als wichtiger Transformationsprozess des heutigen Jahrhunderts. Wir befinden uns aktuell in einer intensiven Debatte über die sozialpolitischen Auswirkungen der ökologischen Transformation.

Was leitet sich nun aus den aufgezählten Megatrends für die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates ab?

Eine Folge der zuerst genannten Megatrends war der Umbau des deutschen Sozialstaates. Vor allem ab Mitte der 2000er Jahre wandelte er sich (in den Worten von Lessenich formuliert) von einem kompensatorischen hin zu einem aktivierenden Sozialstaat. Seitdem hat die Soziale Sicherung eine stärkere Anreizfunktion, d.h. eine marktbefürwortende Einstellung – mithin wird auch von der Ökonomisierung des Sozialstaates gesprochen. Dies bedeutet, dass der aktivierende Sozialstaat nur noch unterstützend eingreifen soll, um die Funktionsweise von Märkten zu sichern und verbesserte Rahmenbedingungen für Aktivitäten von privaten Akteuren zu schaffen.

Gerade die Bewegung von einem kompensatorischen hin zu einem aktivierenden Sozialstaat stellt ihre Anpassungsfähigkeit unter Beweis: Das Äquivalenzprinzip, d.h. die Statussicherung hat weiterhin bestand, aber auf einem geringeren Niveau; das Solidaritätsprinzip, d.h. die Existenzsicherung hat weiterhin Bestand, aber die Zumutbarkeitskriterien und Bedürftigkeitsprüfungen wurden diesbezüglich verschärft; das Subsidiaritätsprinzip spielt weiterhin eine Rolle, es wurde aber stärker auf die Eigenverantwortlichkeit und die Familie zugeschnitten.

Nicht nur – aber insbesondere die Digitalisierung – führt zu einer Veränderung der Qualifizierungsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Verbunden mit demografischem Wandel und Fachkräftemangel spitzt sich die Frage nach adäquaten Qualifikationen zu, weshalb der Aus- und Weiterbildung sowie der Schaffung von Übergangspfaden in Betrieben als Bestandteil der präventiven Sozialpolitik eine wichtige Bedeutung zukommt. Zudem unterliegen Lebensverläufe zunehmend einer Verdichtung und einer Überlappung von Erwerbs- und Sorgearbeit, womit Risiken im Lebensverlauf nicht nur erhöht, sondern auch kumuliert auftreten. Vor diesem Hintergrund passt sich der aktivierende Sozialstaat situativ an. Er bewegt sich – wenn auch in kleinen Schritten – in Richtung präventiver Sozialstaat und stellt so erneut seine Anpassungsfähigkeit unter Beweis.

Ob sich nun der Sozialstaat hin zu einem präventiven digitalen Sozialstaat bewegen wird, wird sich erst zeigen. Sicherlich ist beispielsweise die elektronische Patientenakte, die eingeführten Onlineberatungen bei der Rentenversicherung oder in den Jobcentern eine gute – wenn auch sehr langsame – Entwicklung in diese Richtung.

Ob nun die Soziale Sicherung ihre Anpassungsfähigkeit auch vor dem Hintergrund der ökologischen Transformation unter Beweis stellen kann, wird sich zeigen. Welche Anpassungen sind nötig, wenn die Bepreisung von CO2 und die Finanzierung des Ausbaus der erneuerbaren Energien die einkommensschwachen Haushalte relativ gesehen stärker belastet? Die Debatte über die Ausgleichsmechanismen betont insbesondere die Zielkonflikte zwischen Sozialpolitik und ökologischer Transformation. Welche Antwort haben wir auf die grundsätzliche Frage, ob das Versprechen des deutschen Sozialstaats eingehalten werden kann, breite Bevölkerungskreise am Wirtschaftswachstum zu beteiligen, wenn wir parallel die „Grenzen des Wachstums“ sehen? Neben Zielkonflikten gibt es aber auch Synergieeffekte: So leiden einkommensschwächere Gruppen häufig besonders unter negativen Umwelteinflüssen. Auch kann die Besteuerung des Ressourcenverbrauchs Lenkungswirkungen erzielen und sozialstaatliche Handlungsspielräume erweitern. Über all diese Fragen wird aktuell in Wissenschaft, Politik und Verbände nachdachte, diskutiert und verhandelt. *

Zurück zu meiner ersten These: der deutsche Sozialstaat ist in seinem Kern so ausgestaltet, dass er sich den Anforderungen der Zukunft anpassen kann. Das hat er unter Beweis gestellt. Aber er kann es nur unter einer Voraussetzung:

Nur wenn der Sozialstaat bzw. eine sozialstaatliche Reform auf überwiegendes Verständnis und Zuspruch auf Seiten der Solidargemeinschaft stößt, kann das Solidaritätsprinzip bestand haben. Die Akzeptanz (und somit die Einstellung) gegenüber dem Sozialstaat ist gerade für seine Legitimation, Ausgestaltung, Funktionsfähigkeit und vor allem auch für sein Erhalt und für seine Umgestaltung entscheidend. Die geringe Beteiligung an den Sozialwahlen macht als ein Beispiel deutlich, dass wir ein Vermittlungsproblem im Sozialstaat haben. Kluge und innovative Anpassungsreformen laufen ins Leere, wenn zeitgleich die Grundlage für das Solidaritätsprinzip schwindet.

Liebe GVG, herzlichen Glückwunsch zum 75-jährigen Bestehen!

*u.a. am 21./22. September auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V. https://www.sozialerfortschritt.de/wp-content/uploads/2022/07/Flyer-Ev.-Akademie-Loccum_Oekologisch-und-sozial_Tagungsprogramm.pdf