Dr. Volker Leienbach (Jahrgang 1954) studierte Betriebswirtschaftslehre und promovierte danach an einem Kölner Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik. 1981 bis 1983 war er Referent bei der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA). Anschließend wechselte er zur GVG, wo er von 1984 bis 2002 das Amt des Geschäftsführers innehatte. Insgesamt war er der GVG 35 Jahre lang verbunden. Von 2002 – 2019 war Dr. Leienbach Direktor und Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Verbandes der Privaten Krankenversicherung e.V. (PKV). Mittlerweile ist Dr. Leienbach nicht mehr im operativen Geschäft tätig. Er berät und bringt seine Erfahrung in verschiedenen Initiativen ein.
GVG im Gespräch: Sie sind 1984 Geschäftsführer der GVG geworden. Wie war damals Ihre Anfangszeit?
Dr. Volker Leienbach: Das Büro der GVG war damals in Köln, in einer kleinen Wohnung. Bonn, die damalige Bundeshauptstadt, war nicht weit entfernt. Das war schon sehr praktisch.
Herr Kaltenbach war Vorstandsvorsitzender der GVG. Er hat mich in meiner Arbeit sehr unterstützt. Mein Vorgänger, Herr Jung, hat mir eine gut organisierte Geschäftsstelle überlassen. Viele Themen hatte er bereits bearbeitet oder angestoßen. Als ich angefangen habe, hatte die GVG eine teilzeitbeschäftigte Sekretärin in der Geschäftsstelle.
GVG im Gespräch: Sie wechselten als Referent von der BDA zur GVG. Wie waren damals Ihre Vorstellungen als neuer Geschäftsführer der GVG?
Dr. Volker Leienbach: Ich fand es wichtig, den finanziellen und damit auch personellen Spielraum der GVG zu vergrößern. Wir haben in der Zeit meiner Geschäftsführung deshalb versucht, wichtige Zukunftsthemen zu identifizieren und damit einen größeren Mitgliederkreis anzusprechen.
GVG im Gespräch: Um welche Themen ging es dabei? Wie haben Sie die Themen bearbeitet?
Dr. Volker Leienbach: Mit einigen Themen hat man sich in der GVG ja schon intensiv beschäftigt. Zum Beispiel im Gesundheitsausschuss. Dieser hatte bisher allerdings ausschließlich Diskussionen über wirtschaftliche oder finanzielle Aspekte im Gesundheitsbereich geführt. Das war zweifellos wichtig. Ich fand aber gerade den eigentlichen Zweck des Gesundheitswesens, nämlich den medizinischen Versorgungsaspekt, interessant. Wir haben daher einen weiteren Ausschuss gegründet, der dann die Nationalen Gesundheitsziele initiiert hat.
Ein weiterer, wichtiger Aspekt war die internationale und europäische Ausrichtung der GVG. Es gab damals schon eine Repräsentanz in Brüssel. Die GVG wurde dann im Ausland immer aktiver. Mit der Zeit wurden von der GVG eine Vielzahl von Projekten für die Bundesregierung, die EU und die Weltbank im Bereich der internationalen sozialpolitischen Zusammenarbeit koordiniert. Wir haben dann zum Beispiel auch den Ausschuss Europa gegründet, um uns intensiver mit den europäischen Themen auseinanderzusetzen. Nach der Wiedervereinigung kam der Ausschuss Osteuropa hinzu.
Wir konnten dann weitere Themen anstoßen und in Bewegung bringen. Zum Beispiel die Digitalisierung, die damals mit der Telematik im Gesundheitswesen begonnen hatte. Auch die Pflegeversicherung, die 1995 eingeführt wurde, war ein wichtiges Thema. Da gab es viele Diskussionen, auch über die Umsetzung und die Finanzierung.
GVG im Gespräch: Die Strategie, wichtige Zukunftsthemen zu identifizieren, ging also auf. Wie war die Mitgliedersituation?
Dr. Volker Leienbach: Wir wurden für viele Akteure interessanter und gewannen mehr Mitglieder. Dadurch hatten wir auch mehr finanzielle Mittel zur Verfügung. Wir konnten die GVG weiter ausbauen – thematisch und auch personell. Als ich meine Tätigkeit als Geschäftsführer der GVG beendete, hatten wir insgesamt 25-30 Beschäftigte. Im Ausland arbeiteten wir mit 100 – 200 Expertinnen und Experten zusammen, die uns mit ihrer Kompetenz begleitet haben. Die GVG wurde zu einer mittelgroßen Organisation.
GVG im Gespräch: Sie haben gesagt, dass die GVG ihre Themen/neue Themen weiterentwickelt hat. Woran lag es noch, dass die GVG solch eine rasante Entwicklung nahm?
Dr. Volker Leienbach: Wir haben damals viele gesellschaftliche Umbrüche erlebt. Die Wiedervereinigung zum Beispiel. Wir konnten zum Beispiel unser Wissen und unsere Kompetenz nach der Wende in die neuen Bundesländer transportieren. Damit konnten wir die GVG weiter ausbauen.
Es gab auch eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem Gesundheits- und Arbeitsministerium. Wir konnten in deren Auftrag ausländische Gruppen betreuen. Deutschland war damals mit seinen Strukturen im Sozialbereich Vorbild für viele Länder. Vertreterinnen und Vertreter der osteuropäischen Länder haben sich in Deutschland diese Strukturen angeschaut und mitgenommen. Die GVG konnte diesen Prozess damals mitbegleiten. Unsere Ausschüsse haben sich um die Umsetzung gekümmert.
Sicherlich war auch ein Grund, dass die GVG mit ihrer Kompetenz, mit ihrem Netzwerk und ihrer Mitgliederstruktur ein großes Alleinstellungsmerkmal hatte. Mehr Konkurrenz wie zum Beispiel Agenturen oder andere Initiativen kamen erst später.
GVG im Gespräch: Sie haben mehr Mitglieder dazu gewonnen. Mehr Mitglieder heißt aber auch mehr Stimmen und mehr Positionen.
Dr. Volker Leienbach: Wir konnten die GVG zwar weiter ausbauen. Einen Konsens zwischen den zum Teil heterogenen Positionen herzustellen, wurde aber schwieriger. Vor allem, wenn es um institutionelle/strukturelle Fragen ging.
GVG im Gespräch: Im Gründungskonsens der GVG war ja eigentlich der Grundgedanke der Pluralität verankert.
Dr. Volker Leienbach: Ja, das stimmt. Das ist auch gut so. Politisch war der Gründungskonsens der Grundgedanke der Pluralität, der Gliederung des Systems der sozialen Sicherung. Auch Subsidiarität und Eigenverantwortung waren wichtige Leitideen. Das in Abgrenzung zum Einheitssystem, das damals die Alliierten installieren wollten. Damals führten uns diese Themen zusammen.
Heutzutage hat sich die Konsenskultur insgesamt verändert. Viele Themen polarisieren heute. Kompromisse zu schließen, wird immer schwieriger. Das hat sich heute sicherlich geändert.
GVG im Gespräch: Neben dem Konsens wird es bei der GVG zukünftig auch stärker darum gehen, Themen nach vorne zu bringen, Agenda Setting zu betreiben.
Dr. Volker Leienbach: Ja. Die Kommunikation hat sich geändert. Sicher muss die GVG über Zukunftsfragen der sozialen Sicherung immer noch intensiv diskutieren und Lösungen erarbeiten. Einen Konsens herzustellen ist eine wichtige Existenzgrundlage der GVG. Ich fand zum Beispiel gut, dass die GVG in ihrer Aktuellen Stunde ihren Mitgliedern mit wichtigen Impulsen eine Austauschmöglichkeit gegeben hat, um über die Herausforderungen und Folgen des Ukraine-Krieges zu sprechen.
Oder nehmen Sie das Gesundheitsziel Patientensicherheit. Das ist ein Ziel, hinter dem sich alle versammeln können. Dieses Thema nach vorne zu bringen, war eine sehr gute Entscheidung.
Die Welt ist aber heute auch schneller geworden. Botschaften/Storytelling werden wichtiger. „Tue Gutes und sprich darüber.“ Wenn man die Themen der GVG identifiziert und zum Schwerpunkt macht, sollte man die Kommunikation immer gleich mitdenken. Bei jedem der Projekte, an denen ich zum Beispiel in der Vergangenheit mitgewirkt hatte, ist die Öffentlichkeitsarbeit integraler Bestandteil gewesen.
GVG im Gespräch: Da haben Sie schon einige Themen angesprochen, die die GVG heutzutage bearbeitet. Blicken wir gemeinsam in die Zukunft. Wie soll sich die GVG Ihrer Meinung nach zukünftig aufstellen?
Dr. Volker Leienbach: Es gibt heute mehr Konkurrenz als zu meiner Zeit damals. Das ist sicher nicht so einfach. Die GVG sollte aber auf jeden Fall weiterhin Themen identifizieren, die zukünftig eine wichtige Rolle spielen. Dabei muss auch der Platz für Agilität und Kreativität da sein.
Die GVG hat eine spannende Mitgliederstruktur mit vielen wichtigen Akteuren aus dem Bereich der sozialen Sicherung. Dort können viele Debatten geführt werden, die soziale und gesellschaftliche Themen aufgreifen und Lösungsmöglichkeiten anbieten. Damit können auch Dialogangebote an die politischen Entscheider gemacht werden. Dieses Pfund sollte die GVG nutzen.
GVG im Gespräch: Welche Themen wären Ihnen zukünftig wichtig?
Dr. Volker Leienbach: Ich glaube, es gibt viele Zukunftsthemen. Für mich war die Internationalisierung der GVG immer ein Herzensthema. Ich denke, dass der GVG eine wieder verstärkte Internationalisierung/Europäisierung gut zu Gesicht stehen würde. Die Zukunft der Sozialsysteme ist zum Beispiel auch ein europäisches Thema. Wie entwickelt sich Gesundheits- und Sozialpolitik in Europa weiter? Welche Themen spielen über die Grenzen hinweg eine wichtige Rolle? Auch der Erfahrungsaustausch und der Blick über den Tellerrand ist für die GVG immer wieder spannend.
Auch der Schutz vor zukünftigen Pandemien wäre ein wichtiges Thema. Die GVG hat in ihrer Mitgliederstruktur alle wichtigen Player, um dieses Thema zu beleuchten und dazu Ideen zu entwickeln – abseits von den tagespolitischen Debatten.
Ich halte auch das Thema Nachhaltigkeit für sehr wichtig. Dabei geht es um Nachhaltigkeit in allen Bereichen - nicht nur um das Klima. Die nachhaltige Finanzierung der sozialen Sicherung sollte ein Schwerpunktthema sein.
Insgesamt müssen wir uns mit den Zukunftsfragen der sozialen Sicherung auseinandersetzen. Die Finanzierung der sozialen Sicherheit ist ja immer wieder ein Dauerthema. Häufig werden politische Entscheidungen nur für Wählerinnen und Wähler und für die Legislatur gefällt. Das wird in der Zukunft nicht mehr ausreichen. Wir müssen künftig auch strukturelle/systemische Fragen stellen und diskutieren.
GVG im Gespräch:
Dass hört sich alles sehr spannend an. Viele Punkte, die Sie angesprochen haben, werden auch in Zukunft bei der GVG eine wichtige Rolle spielen. Wir bedanken uns herzlich für dieses tolle Gespräch. Wir wünschen Ihnen alles Gute!