Am Arbeitsmarkt trifft derzeit Wandel auf Wandel: Auf der Angebotsseite sinkt demografiebedingt das Erwerbspersonenpotenzial, während der Anteil der Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen steigt und die Fürsorgearbeit zunimmt. Teilhabe am Arbeitsmarkt ist somit für einen wachsenden Anteil der Bevölkerung voraussetzungsvoll. Gleichzeitig verändern sich im Zuge von Digitalisierung und Dekarbonisierung die Nachfrage nach Qualifikationen, was oftmals mit steigenden Anforderungen einhergeht. Es kommt zu einer Gleichzeitigkeit von Fachkräftemangel und sich verfestigender Langzeitarbeitslosigkeit.
Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik steht daher vor der enormen Herausforderung, trotz komplexerer Ausgangslagen mehr Erwerbspersonenpotenziale zu erschließen und zugleich die Passfähigkeit zwischen vorhandenen und nachgefragten Kompetenzen zu erhöhen. Verbesserte Erwerbsanreize greifen dabei zu kurz, denn sie überwinden nicht die Zugangshürden zum Arbeitsmarkt, die ihren Ursprung in mangelnden Qualifikationen, Sprachbarrieren, gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Fürsorgearbeit haben.
Doch bisher gelingt es zu selten, Teilhabechancen im Fall komplexer Zugangshürden zu erschließen. Denn die Absicherung der Lebensrisiken ist in unterschiedlichen Rechtskreisen organisiert, deren Zuständigkeiten und Rechtsbegriffe nicht immer aufeinander abgestimmt sind. Dem steht jedoch eine Lebenswirklichkeit gegenüber, die an Rechtskreisen nicht Halt macht, wenn Menschen sich gleichzeitig in mehreren Rechtskreisen bewegen oder zeitlich zwischen diesen wechseln. Im Ergebnis führen die daraus resultierenden Koordinationsprobleme dazu, dass oftmals keine bedarfsangemessene Hilfe ermöglicht wird. Im schlechtesten Fall werden aufgrund der Unübersichtlichkeit des Systems Leistungen in einem signifikanten Ausmaß gar nicht in Anspruch genommen.
Es braucht daher einen Sozialstaat, der die Befähigung stärker als bisher in den Fokus stellt. Ein befähigender Sozialstaat nimmt die Lebenssituation eines Menschen umfassend in den Blick und erweitert durch gezielte Unterstützung den Raum der Handlungsmöglichkeiten und den Raum für Kompetenzerwerb. Im Idealfall ermöglicht ein befähigender Sozialstaat somit dauerhafte Teilhabe am Arbeitsmarkt und hat daher auch einen präventiven Charakter. In vielen Bereichen des Sozialgesetzbuches werden bereits heute neue Wege erprobt, die an drei vielversprechenden Stellen für einen stärker befähigenden Sozialstaat ansetzen: Ganzheitlichkeit, Coaching und Flexibilisierung.
Ganzheitlichkeit setzt auf eine trägerübergreifende Koordination, um eine bedarfsgerechte, auf die individuelle Lebenssituation abgestimmte Unterstützung zu organisieren. Beispiele dafür sind die Jugendberufsagenturen, aber auch die Modellansätze im Rahmen des Bundesprogramms rehapro im Bereich der beruflichen Rehabilitation. Positive Wirkungen zeigen zudem Ansätze, die auf kontinuierliche Begleitung setzen. So sieht das Teilhabechancengesetz im SGB II ein begleitendes Coaching vor, um eine geförderte Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen durch lebensweltliche und soziale Unterstützung zu festigen. Darüber hinaus braucht es flexible Weiterbildungsangebote bis hin zur beruflichen Qualifikation, um Querwege und Aufstiege in einer sich wandelnden Arbeitswelt zu ermöglichen. Modulare Qualifikationswege, die auf bereits vorhandenen Kompetenzen aufsetzen und eng mit der betrieblichen Praxis verzahnt sind, verbessern nicht nur die individuellen Chancen, sondern bekämpfen auch den Fachkräftemangel.
Die Stärkung dieser befähigenden Elemente ist jedoch voraussetzungsvoll. Es braucht eine Reform des Sozialrechts, um Schnittstellen zwischen Leistungssystemen zu reduzieren, eine trägerübergreifende Zusammenarbeit zu fördern und die Unterstützung stärker am Bedarf auszurichten. Um berufliche Quereinstiege und Aufstiege zu ermöglichen, sollte parallel das Weiterbildungssystem flexibilisiert werden. Ein begleitendes, auf Kontinuität setzendes Coaching kann ein weiterer wichtiger Baustein eines befähigenden Sozialstaates sein.
Dabei muss auch die Finanzierbarkeit mitgedacht werden. Wichtige Einsparpotenziale liegen auch hier in der Reduktion bzw. besseren Koordination der Schnittstellen, die oftmals mit hohen Verwaltungskosten einhergehen. Zudem sollten Verwaltungsprozesse wo möglich vereinfacht und zugleich digitalisierungsfähig gemacht werden. Dies betrifft auch einen digitalen Zugang zum Sozialstaat. Eine barrierefreie Sozialstaats-App könnte ausgehend von individuellen Lebenslagen helfen, sich im System zurechtzufinden, Anträge zu stellen, Ansprechpartner zu finden und Online-Beratungen wahrzunehmen.
Ein befähigender Sozialstaat, der auf diese Weise Blockaden im Zugang zum Sozialstaat und in der Kooperation verschiedener Rechtskreise abbaut, hat ein großes Potenzial, zukunftsfest zu werden und das Versprechen der Teilhabe auch in Zeiten einer sich wandelnden Arbeitswelt glaubhaft zu erneuern.
Hinweis: Dieser Meinungsbeitrag entstand auf Basis einer Keynote von Prof. Dr. Arntz bei der Fachtagung „Gestaltungsoptionen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik – Anknüpfungspunkte und Perspektiven für die Zukunft“ im Bundesministerium für Arbeit und Soziales am 20. März 2025 in Berlin.
Die in diesem Meinungsbeitrag geäußerten Ansichten und Standpunkte repräsentieren ausschließlich die persönlichen Meinungen der jeweiligen Expertinnen und Experten und nicht die offizielle Position der GVG (Gesellschaft für die Versicherungswissenschaften und -gestaltung e.V.). Die GVG ist eine konsensbasierte Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Debatten über verschiedene sozialpolitische Themen anzustoßen. Die Veröffentlichung dieser Meinungsbeiträge dient dem Zweck, unterschiedliche Standpunkte und Ansichten in die Diskussion einzubringen. Die GVG bleibt neutral und achtet auf eine Ausgewogenheit der Perspektiven.