GVG-Perspektive Nr. 12 – Meinungsbeitrag Prof. Dr. Martin Werding (Mitglied des Sachverständigenrates)

Generationenvertrag und Generationengerechtigkeit

10.07.2025

Die Rede vom „Generationenvertrag“, auf dem die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) und die gleichfalls umlagefinanzierten Sozialversicherungen zur Deckung von mit dem Lebensalter zunehmenden Gesundheits- und Pflegerisiken basieren, ist aus juristischer wie aus ökonomischer Sicht irreführend. Junge Beitragszahler:innen unterliegen in diesen Systemen einer staatlich verordneten Beitragspflicht und werden nie nach ihrer Zustimmung gefragt. Das muss so sein. Ohne hoheitlichen Zwang wäre Umlagefinanzierung ein unseriöses „Kettenbrief-Spiel“, das zusammenbricht, sobald sich nicht mehr genug neue Einzahler finden lassen.

Der Staat kann ein Umlage-Rentensystem stabilisieren – doch was heißt das eigentlich? Als 2004 der „Nachhaltigkeitsfaktor“ in die Rentenanpassungsformel eingefügt wurde, wurde dies als intelligenter, ursachengerechter Selbst-Stabilisierungsmechanismus gelobt, auch im Ausland. Dieser Faktor verlangsamt nämlich die jährlichen Rentensteigerungen gegenüber der Lohnentwicklung, wenn sich die demografischen Grundlagen der Rentenfinanzen ungünstig entwickeln. Momentan nimmt die Politik dagegen einen zweiten Anlauf, ihn wieder abzuschaffen. Nun soll eine „Haltelinie“ für das Sicherungsniveau die gesetzlichen Renten stabilisieren. Stabil bleiben soll in Zukunft auch die Regelaltersgrenze für den Renteneintritt. Beide Schritte bewirken aber, dass sich der absehbare Anstieg der Beitragssätze und/oder der Bundesmittel der GRV spürbar beschleunigt.

Spätestens 2027/28 steigt der Beitragssatz der Rentenversicherung, der zuletzt zwölf Jahre lang unter 19 Prozent der beitragspflichtigen Löhne lag, sprunghaft auf rund 20 Prozent. Bei einer beitragsfinanzierten Haltelinie erreicht er nach aktuellen Simulationen des Autors 2040 rund 22,5 Prozent und steigt bis 2060 weiter auf über 25 Prozent. Die Summe aller Beitragssätze der Sozialversicherungen wird dann sogar bei 55 Prozent liegen. Wird die Haltelinie für gesetzliche Renten dagegen steuerfinanziert, wie derzeit geplant, können sich die Bundesmittel für die GRV gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von derzeit 3,3 Prozent (oder rund 30 Prozent des Bundeshaushalts) bis 2060 auf 5,3 bis 6,9 Prozent des BIP tendenziell verdoppeln – je nach genauer Ausgestaltung. Dies würde enorme Steuererhöhungen erzwingen und trotzdem alle anderen Ausgaben des Bundes, etwa für Zukunftsinvestitionen, massiv unter Druck setzen. Jede dieser Finanzierungsvarianten für stabile Renten und ein stabiles Rentenalter belastet in erster Linie jüngere und zukünftige Versicherte, Steuerzahler:innen oder Bürger.

Trotzdem machen sich Jüngere eher Sorgen um ihre eigene gesetzliche Rente als um die Beiträge, die sie dafür vorab entrichten müssen. Sie fragen: Bekomme ich überhaupt noch eine Rente? Und wie lange muss ich dafür arbeiten? Sie übersehen, dass bis zu ihrem eigenen Renteneintritt durchgängig eine politische Mehrheit von rentennahen und Rentnerjahrgängen bestehen wird. Diese sorgt dafür, dass das Rentensystem fortgeführt wird. Für jüngere Versicherte besteht vor allem das Risiko, dass dies auf eine Weise geschieht, bei der sie lange Zeit hohe Beiträge zahlen müssen. Dabei könnten sie diese Mittel außerhalb des Umlagesystems der GRV für ihre eigene Vorsorge viel besser nutzen. Dann könnten sie auch mit einer weiter steigenden Regelaltersgrenze entspannter umgehen und leichter als heute vorzeitig mit Abschlägen in Rente gehen. Nach den gängigen Vorschlägen sollte die Altersgrenze zudem nur – anteilig! – in dem Maße steigen, wie sich die tatsächliche Lebenserwartung weiter erhöht. Im Durchschnitt werden Jüngere länger erwerbsfähig sein als ihre Großeltern und Eltern, und ihre Rentenphase wird ebenfalls länger. Anhebungen der Regelaltersgrenze bei steigender Lebenserwartung sind daher ein weiterer Teil ursachengerechter Reformen im Umgang mit der demografischen Alterung, ebenso wie eine Dämpfung des Sicherungsniveaus umlagefinanzierter Renten eine passende Antwort auf gesunkene Geburtenzahlen darstellt – kombiniert mit einer Umschichtung hin zu kapitalgedeckten Formen der betrieblichen und/oder privaten Altersvorsorge.

Nach weitsichtigen Reformen in den Jahren 1989 sowie 1997 bis 2007 ist die Rentenpolitik in Deutschland bei der Anpassung des Alterssicherungssystems an die demografische Alterung außer Tritt gekommen. Verzögerte Reformen haben eine Last erzeugt, die nicht mehr vermieden, sondern nur noch geteilt werden kann – zwischen den Generationen und eventuell auch innerhalb der älteren Generation.

Aktuell geplante Reformen bürden diese Last stattdessen allein jüngeren und zukünftigen Versicherten auf, die für die demografische Alterung definitiv nichts können, aber zur Beitrags- und Steuerzahlung verpflichtet sind. Das widerspricht dem Konzept eines Generationenvertrages, der aus sozialphilosophischer Sicht eine regulative Idee darstellt: Da der Staat junge Menschen zur Teilnahme an diesem Vertrag zwingen kann, muss er ihn so gestalten, dass diese zustimmen würden, wenn man sie danach fragen würde.

Von Prof. Dr. Martin Werding, Mitglied des Sachverständigenrates Wirtschaft und Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum (RUB)

Weitere Informationen erhalten Sie hier.

Hinweis zu den Meinungsbeiträgen

Die in diesem Meinungsbeitrag geäußerten Ansichten und Standpunkte repräsentieren ausschließlich die persönlichen Meinungen der jeweiligen Expertinnen und Experten und nicht die offizielle Position der GVG (Gesellschaft für die Versicherungswissenschaften und -gestaltung e.V.). Die GVG ist eine konsensbasierte Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Debatten über verschiedene sozialpolitische Themen anzustoßen. Die Veröffentlichung dieser Meinungsbeiträge dient dem Zweck, unterschiedliche Standpunkte und Ansichten in die Diskussion einzubringen. Die GVG bleibt neutral und achtet auf eine Ausgewogenheit der Perspektiven.