GVG-Perspektive Nr. 17 – Meinungsbeitrag Rüdiger Frey (Pro Zwei)

Fachkräftemangel 2.0: Ruhestandswelle und Fluktuation setzen Unternehmen unter Druck

19.09.2025

Erkenntnisse gibt es genug – aber was tun wir damit?

Deutschland steht vor einer der größten arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen seiner Geschichte: Der demografische Wandel sorgt laut IAB-Prognose dafür, dass im Jahr 2035 rund 7 Millionen Erwerbspersonen fehlen werden – sofern keine Gegenmaßnahmen greifen.

Gleichzeitig nehmen die Herausforderungen für Unternehmen zu: Steigende Krankheitskosten, sinkende Mitarbeiterbindung und eine wachsende Nachwuchslücke. Institutionen liefern zahlreiche Analysen und Prognosen – doch in der Praxis führt die Flut an Informationen häufig zu Überforderung statt zu Orientierung:

Die Wirtschaft ist mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert, weiß aber oft nicht, wo sie ansetzen soll:

Die doppelte Lücke: Zahlen, Fakten, Handlungsdruck

Der demografische Wandel sorgt dafür, dass in den kommenden Jahren Millionen erfahrene Beschäftigte in den Ruhestand gehen. Gleichzeitig gelingt es vielen Unternehmen immer weniger, die junge Generation langfristig zu binden. Laut aktueller Forsa-Studie (2024) sind 49 % der 18- bis 29-Jährigen wechselwillig – der höchste je gemessene Wert in Deutschland.

Das bedeutet: Während auf der einen Seite erfahrene Fachkräfte altersbedingt ausscheiden (7-Millionen-Lücke), droht auf der anderen Seite ein Aderlass an jungen Talenten, wenn Unternehmen sie nicht halten können.

Der Gallup Engagement Index 2024 verschärft das Bild: Nur noch 9 % der deutschen Beschäftigten fühlen sich ihrem Unternehmen eng verbunden – der schlechteste Wert seit Beginn der Erhebung mit fatalen Folgen.

Die personelle Bedrohungslage ist hoch und verschärft sich weiter. Unternehmen, die jetzt nicht aktiv gegensteuern, riskieren nicht nur Fachkräftemangel, sondern auch einen nachhaltigen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit.

Wettbewerb um Aufmerksamkeit: In einem hart umkämpften Arbeitsmarkt setzen Unternehmen verstärkt auf sichtbare, leicht kommunizierbare Benefits und Maßnahmen (z. B. Obstkorb, Homeoffice, Fitnessangebote), weil diese schnell nach außen wirken und im Employer Branding leicht vermarktbar sind. Solche Maßnahmen sind oft für die "Galerie" gedacht, um das Image als moderner, attraktiver Arbeitgeber zu stärken.

Die entscheidenden Faktoren wie Führung, Unternehmenskultur, Entwicklungsmöglichkeiten und echte Wertschätzung werden jedoch oft vernachlässigt, weil sie aufwändiger, weniger sichtbar und schwieriger zu verändern sind.

Wir müssen uns eingestehen, dass viele der bisherigen Einzelmaßnahmen nicht ausreichen, um die echten Probleme zu lösen. Echte Transformation ist unbequem, aber notwendig. Nur wer bereit ist, die wirklich relevanten Hebel zu bewegen, bleibt zukunftsfähig.

Neustart statt Aktionismus – Die Uhr auf Null setzen

Die Zeit der hektischen Einzelmaßnahmen ist damit aus unserer Sicht vorbei. Angesichts der doppelten Lücke und der massiven Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir einen echten Neustart – ohne Ballast, ohne Symbolpolitik, ohne Selbsttäuschung.

  • Bestandsaufnahme: Wir analysieren ehrlich, was wirklich wirkt und was nur Aktionismus war.
  • Fokus auf das Wesentliche: Wir konzentrieren uns auf die zentralen Hebel: Unternehmenskultur, Führung, Entwicklung, Sinn und Wertschätzung.
  • Beteiligung aller: Neustart gelingt nur gemeinsam – wir holen die Mitarbeitenden an den Tisch und hören wirklich zu.
  • Mut zu unbequemen Entscheidungen: Wir verabschieden uns konsequent von Maßnahmen, die nur der Außendarstellung dienen.
  • Langfristige Perspektive: Wir denken nicht in kurzfristigen Kampagnen, sondern in nachhaltigen Veränderungen.

Vom Informationsdschungel zum Handeln: Drei Fragen als Kompass

Drei einfache Fragen helfen, die doppelte Lücke im eigenen Unternehmen sichtbar zu machen:

  1. Wie viele Mitarbeitende verlassen in den nächsten fünf Jahren das Unternehmen?
  2. Wie hoch ist die aktuelle Fluktuation?
  3. Wie viele Neueinstellungen verlassen das Unternehmen innerhalb des ersten Jahres?

Der nächste Schritt: Individuelle Lösungen entwickeln und umsetzen

Ist der erste Schritt gemacht und das Bewusstsein geschaffen, geht es darum an individuellen Lösungen zu arbeiten. Denn jedes Unternehmen ist anders – und braucht passgenaue Maßnahmen, die wirklich greifen.

Gemeinsam Wege finden: Vom Problem zur Lösung

Wirtschaft, Wissenschaft und Institutionen sind gleichermaßen Teil der Lösung

Die doppelte Lücke gehört auf die Agenda der Unternehmensleitung

Unser vorrangiges Ziel muss sein, die Dimension der 7-Millionen-Lücke ins Bewusstsein der Unternehmensführung zu bringen. Nur wenn die Unternehmensleitung die strategische Bedeutung erkennt, kann sie die richtigen Prioritäten setzen. Mit diesen drei einfachen Fragen gelingt der  Einstieg ins Gespräch – und damit der erste Schritt Richtung Lösungsebene.

 

 

Quellen:

  • IAB-Prognose Erwerbspersonenpotenzial 2035
  • Forsa-Studie 2024
  • Gallup Engagement Index 2024
Hinweis zu den Meinungsbeiträgen

Die in diesem Meinungsbeitrag geäußerten Ansichten und Standpunkte repräsentieren ausschließlich die persönlichen Meinungen der jeweiligen Expertinnen und Experten und nicht die offizielle Position der GVG (Gesellschaft für die Versicherungswissenschaften und -gestaltung e.V.). Die GVG ist eine konsensbasierte Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Debatten über verschiedene sozialpolitische Themen anzustoßen. Die Veröffentlichung dieser Meinungsbeiträge dient dem Zweck, unterschiedliche Standpunkte und Ansichten in die Diskussion einzubringen. Die GVG bleibt neutral und achtet auf eine Ausgewogenheit der Perspektiven.