GVG-Perspektive Nr. 19 – Meinungsbeitrag Dr. Britta Matthes (IAB)

Der Einsatz Künstlicher Intelligenz allein kann die zukünftigen Fachkräfteengpässe nicht beheben

13.10.2025

Wenn nicht schon heute, dann in baldiger Zukunft wird es nicht mehr möglich sein, den Fachkräftebedarf über den Eintritt jüngerer Geburtsjahrgänge in den Arbeitsmarkt zu decken. Die aktuelle Qualifikations- und Berufsprojektion zeigt, dass es in großen Teilen Deutschlands weniger Arbeitskräfte geben wird als heute (https://iab.de/publikationen/publikation/?id=14672800). Zudem sind aufgrund der gestiegenen außenpolitischen Unsicherheiten, der bereits heute spürbaren Folgen des Klimawandels sowie der steigenden Zahl an Pflegebedürftigen eigentlich mehr als weniger Arbeitskräfte nötig.

Oftmals wird die Hoffnung geäußert, dass durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) bestehende oder zukünftige Fachkräfteengpässe zumindest abgemildert, wenn auch nicht vollständig beseitigt werden könnten. Allerdings ist das sehr voraussetzungsvoll: Zwar kann KI unstrukturierte Daten (wie Texte oder Bilder) erfassen und so analysieren, dass daraus automatische Entscheidungen abgeleitet werden können; und generative KI kann viele Fähigkeiten nachbilden, die bislang nur dem Menschen zugeschrieben wurden. Aber neben der technischen Infrastruktur (leistungsfähige Rechner) müssen zum Beispiel große Mengen an (fachspezifischen) Daten (möglichst in Echtzeit) digital verfügbar sein. Außerdem müssen die KI-Algorithmen trainiert und überwacht werden, vor allem um Fehler wie Halluzinationen zu vermeiden. Insgesamt lässt sich also resümieren, dass der Einsatz von KI zwar sicherlich in ein paar Berufen dazu beitragen kann, dass weniger Fachkräfte für die Erledigung der Arbeiten benötigt werden oder der zusätzliche Fachkräftebedarf nicht ganz so stark ansteigt. Aber es werden (fast) in allen Berufen auch berufserfahrene Fachkräfte gebraucht, die KI-Technologien verstehen und in ihrem Fachgebiet einsetzen können. Es bedarf fundierter Fachkenntnisse und auch (impliziter) Berufserfahrungen, um die KI trainieren (und nivellieren) zu können.

Zweitens kann man versuchen, das Erwerbspersonenpotenzial zu erhöhen. Das kann zum Beispiel dadurch gelingen, dass sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen weiter erhöht – insbesondere durch eine weitere Ausweitung ihrer Arbeitszeit. Auch dass man Älteren eine längere Teilhabe am Erwerbsleben ermöglicht und gesundheitlich eingeschränkten Personen verstärkt die Möglichkeit gibt, auf dem Arbeitsmarkt eine Beschäftigung zu finden, kann Teil der Lösung des Problems sein. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Deutschland attraktiv für Migranten und Migrantinnen bleibt. Dabei geht es darum, die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Fürsorgearbeit (weiter) zu verbessern, vor allem indem eine zuverlässige Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen gewährleistet wird. Es geht aber auch darum, KI (und andere digitale Technologien) zu nutzen, um Frauen, Älteren, Menschen mit Behinderungen und anderen marginalisierten Personengruppen eine Integration bzw. Reintegration in das Arbeitsleben zu ermöglichen. Die Vielzahl moderner Technologien, die zur Kompensation von Benachteiligungen eingesetzt werden können, eröffnet zahlreiche neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Personengruppen, die bislang eher selten auf dem Arbeitsmarkt anzutreffen sind.

Allerdings garantiert das alles nicht, dass auch ausreichend Fachkräfte mit den erforderlichen Kompetenzen und Qualifikationen zu finden sind. Es muss also drittens qualifiziert werden. Das fängt bei den „eigenen“ berufserfahrenen Fachkräften an, die stärker als bisher als wichtige Ressource für das Training unternehmenseigener KI-Modelle verstanden werden sollten. Außerdem müssen sich die Unternehmen verstärkt um die meist etwas älteren, in nicht ganz passenden Berufen Ausgebildeten außerhalb des eigenen Unternehmens bemühen. Angesichts des strukturellen Wandels der deutschen Wirtschaft lassen sich dort zunehmend häufiger gut bis sehr gut Qualifizierte finden, die mit geringem Aufwand innerhalb kürzerer Zeit für die zu erledigenden Aufgaben fit gemacht werden können. Ausschlaggebend wird sein, dass auch älteren Fachkräften die Gelegenheit gegeben wird, den Umgang mit KI-Technologien am Arbeitsplatz zu üben. Unterschätzt werden sollte dabei aber nicht, dass damit auch eine emotionale Herausforderung verbunden ist: Menschen, die häufig jahrzehntelang im gleichen Unternehmen, teilweise an ein und demselben Arbeitsplatz beschäftigt waren, wird signalisiert, dass ihre Kenntnisse und Erfahrungen nicht mehr ausreichen, um den Anforderungen am Arbeitsplatz gewachsen zu sein. Das heißt, es muss nicht nur qualifiziert werden, sondern auch in die Motivation derjenigen investiert werden, die zukünftig mit KI arbeiten sollen.

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