In einer Zeit des fundamentalen Wandels mit demografischem Alterungsprozess, steigendem ökonomischen Druck, zunehmender sozialer Kluft und fortschreitender digitaler Transformation wird ein Thema zum strategischen Handlungsfeld und gleichzeitig zu einem Zukunftsfaktor: Health Equity. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2023) definiert sie als „Abwesenheit vermeidbarer, unfairer und veränderbarer Unterschiede im Gesundheitszustand zwischen Bevölkerungsgruppen.“ Es geht jenseits biologisch bedingter Gesundheits- bzw. Krankheitsursachen, primär um die Wirkung der sozioökonomischen Determinanten (Social Determinants of Health, SDH). Alter, Geschlecht, Einkommen, Beruf und Status, aber auch finanzielles Kapital, Lebensverhältnisse und sich daraus ergebende Umweltfaktoren erzeugen Ungleichheiten wie Ungerechtigkeiten in Bezug auf die Prävalenz von Krankheiten, Gesundheitsverhalten, Gesundheitswissen und dessen Anwendung. Eine Kausalität allein in individuell verantworteten Lebensstilentscheidungen zu suchen, greift zu kurz.
Unser solidarisches Sozialsystem täuscht darüber hinweg, dass dramatische Gesundheitsungerechtigkeiten inklusive ihrer negativen Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesundheitssystem, Demokratie und individuelle Gesundheit und damit Leistungsfähigkeit und -möglichkeit bestehen. Das Hinzuziehen von Health Equity in die künftige Ausrichtung von Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftssystemen ist damit kein hippes Nischenthema, sondern birgt systemisches Potenzial – mit Wirkung auf:
Politisch-strategische Programme wie der neue Masterplan Prävention Bayern (Bayerisches Staatsministerium 2025) zeigen, wie sich Health Equity verankern lässt – über regionale Präventionsmaßnahmen, digitale Teilhabe und lebensweltorientierte Steuerung. Es gilt dabei stets zwischen gesundheitlicher Chancengleichheit und gesundheitlicher Chancengerechtigkeit zu unterscheiden. In einem gesundheitsgerechten System geht es nicht um das Gleichmachen, die Gießkanne des Solidarsystems, sondern um einen bedürfnisorientierten Ansatz, der auf die individuelle Gesundheit von Menschen in ihren Lebenswelten abzielt.
Folgende Handlungsdimensionen stehen zur Verfügung:
Ein Commitment zu Health Equity erfordert einen reflektierten, multidimensionalen Diskurs darüber, was Gesundheitsgerechtigkeit für uns als Gesellschaft und Volkswirtschaft sein kann. Die Studie „Future of Health 7“ von Roland Berger (2025) zeigt: Fairness in der Gesundheitsversorgung ist eng mit dem Versorgungszugang über Notfälle hinaus verbunden. 76 % der Befragten in Deutschland wünschen sich ein Gesundheitssystem mit Fokus auf Prävention. Die gesellschaftliche Erwartung ist auf Investitionen in Früherkennung, Primärprävention und der Unterstützung von Behavioral Health gerichtet. Dabei entkräftet die Studie den Vorwurf, dass zu wenig Verständnis für die Bedeutung von individuellem Verhalten auf die Gesundheit besteht: Mehr als 70 % der Befragten bestätigen, dass individuelles Verhalten entscheidend für die Gesundheit ist. Deutschland liegt mit einem hohen Gesundheitsverantwortungsbewusstsein (64 %) an der Spitze. Ein ungenutztes Potenzial für - nennen wir es Health Empowerment -, das durch eine Kombination aus Verhaltens- und Verhältnisprävention aktiviert werden kann. Voraussetzung ist eine verstehende Haltung. Zwar zeigt die neue Studie HLS-GER 3 (2025) erneut, dass niedriger sozialer Status, finanzielle Deprivation und geringes Bildungsniveau mit geringerer Gesundheits- und digitaler Gesundheitskompetenz korrelieren. Dennoch reicht (Gesundheits-) Bildung allein nicht aus, wenn SDH stärker gegenteilig wirken. Wir brauchen Habitussensibilität für die Realitäten sämtlicher Gesellschaftsgruppen. Es ist entscheidend zu begreifen, was Sir Michael Marmot bereits in den 70er Jahren belegt hat: Gesundheit ist keine Frage von Arm und Reich, sondern eine der Position auf dem sozialen Gradienten. Je höher Menschen dort angesiedelt sind, desto gesünder sind sie, desto weniger stark wirkt gesundheitsgefährdendes Verhalten. Das gilt auch für die sozioökonomisch besser gestellten Gruppen. Entscheidend ist nicht nur zu erfassen, wie Gesundheitswissen vermittelt werden muss, damit es in unterschiedlichen Lebenswelten bzw. dem individuellen Sozialraum ankommt, sondern auch, herauszufinden, welche Strukturen es braucht, damit dieses Wissen angewandt werden kann.
Health Equity darf sich nicht dem Vorwurf der „Wokeness“ unterwerfen. Das könnte den Anstoß einer anspruchsvollen und unbequemen Umgestaltung verhindern. Eine resiliente, demokratische Gesellschaft und Volkswirtschaft braucht eine gesundheitsgerechte Transformation.
Die in diesem Meinungsbeitrag geäußerten Ansichten und Standpunkte repräsentieren ausschließlich die persönlichen Meinungen der jeweiligen Expertinnen und Experten und nicht die offizielle Position der GVG (Gesellschaft für die Versicherungswissenschaften und -gestaltung e.V.). Die GVG ist eine konsensbasierte Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Debatten über verschiedene sozialpolitische Themen anzustoßen. Die Veröffentlichung dieser Meinungsbeiträge dient dem Zweck, unterschiedliche Standpunkte und Ansichten in die Diskussion einzubringen. Die GVG bleibt neutral und achtet auf eine Ausgewogenheit der Perspektiven.