GVG-Perspektive Nr. 25 – Meinungsbeitrag Prof. Dr. Nicolas R. Ziebarth (Head of Department ZEW)

Eine Agenda 2035

16.12.2025

Deutschland steht vor der Aufgabe, seine Sozialversicherungssysteme grundlegend zu erneuern. Seit Jahren ist absehbar, dass Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung aufgrund des demografischen Wandels und ihrer beitragsfinanzierten Struktur finanziell aus dem Gleichgewicht geraten. Während frühere Reformen vor allem die Rentenversicherung stabilisierten, wurden zentrale Elemente später wieder abgeschwächt. In der Kranken- und Pflegeversicherung blieben Strukturreformen weitestgehend aus. Wenn keine Gegenmaßnahmen erfolgen, könnte die Summe der Sozialbeiträge bis 2035 auf über 50 % steigen – mit weitreichenden Folgen für Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand.

Die 40-Prozent-Marke gilt seit Jahrzehnten als Grenze, bei der die Abgabenbelastung tragbar bleibt und Wachstum nicht übermäßig gebremst wird. Sollte die Marke auch zukünftig eingehalten werden, entstünde bis 2035 ein Finanzbedarf von rund zehn Beitragspunkten, was  etwa 200 Mrd. Euro pro Jahr entspricht. Schon ein einzelner Beitragspunkt kann laut empirischen Studien bis zu 100.000 Arbeitsplätze kosten und gesamtwirtschaftliche Folgeschäden von bis zu 10 Mrd. Euro verursachen. Darüber hinaus belasten Unsicherheiten über zukünftige Beitragssätze Investitionsentscheidungen und verringern die sogenannte Zukunftsquote öffentlicher Haushalte. Eine Reformagenda muss daher finanzielle Nachhaltigkeit schaffen und Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats stärken.

Krankenversicherung:
Deutschland erzielt trotz hoher Ausgaben im internationalen Vergleich nur mittelmäßige Gesundheitsresultate. Deshalb besteht großes Potenzial, Mittel effizienter einzusetzen und zugleich die Versorgungsqualität zu verbessern. Ein zentraler Ansatz ist eine nutzenorientierte Bepreisung medizinischer Leistungen: Versicherte sollten Gutschriften für präventive Maßnahmen erhalten, während bei Behandlungen mit geringem Nutzen Selbstbehalte erhoben werden. Studien über die Notwendigkeit von Rückenoperationen zeigen beispielsweise wie Fehlanreize teure, medizinisch wenig wirksame Eingriffe begünstigen. Ein wissenschaftlich fundierter, regelmäßig aktualisierter Leistungskatalog mit nach medizinischem Nutzen gestaffelten Zuzahlungen könnte zweistellige Milliardenbeträge einsparen. Ergänzend sollte eine stärkere hausarztzentrierte Versorgung für bessere Patientenkoordination sorgen; auch diese könnte kurzfristig durch Zuzahlungen bei Selbstüberweisungen zu Fachärzten implementiert werden. Zusätzliche Einnahmen könnten durch höhere Steuern auf Tabak, Alkohol und Zucker generiert und vollständig zur Beitragsstabilisierung eingesetzt werden.

Pflegeversicherung:
Da die Pflege stark arbeitsintensiv ist, sind klassische Effizienzgewinne begrenzt. Steigende Eigenanteile sind daher kaum vermeidbar, sofern Bund und Länder die Steuerzuschüsse nicht erhöhen. Gleichzeitig bieten neue Technologien – insbesondere KI-basierte Assistenzsysteme – die Chance, Pflegekräfte zu entlasten und Prozesse zu vereinfachen. Angesichts jährlicher Erbschaften von rund 400 Mrd. Euro erscheint eine stärkere Beteiligung privater Vermögen an den Pflegekosten sowohl ökonomisch als auch sozialpolitisch sinnvoll. Flankierend könnten moderate Anpassungen der Mehrwert- oder Erbschaftsteuer zu einer breiteren Finanzierungsbasis beitragen. Die staatliche Hilfe zur Pflege bleibt als soziale Absicherung zentral, damit niemand unversorgt bleibt, selbst wenn eigene Mittel fehlen.

Rentenversicherung:
Eine langfristig tragfähige Finanzierung erfordert die Rückkehr zu den Grundmechanismen der Reformen der frühen 2000er Jahre. Dazu gehören die Reaktivierung des Nachhaltigkeitsfaktors, der automatisch auf demografische Veränderungen reagiert, sowie die Abschaffung der Haltelinie von 48 %. Ergänzend ist eine Anhebung der Regelaltersgrenze notwendig, die sich dynamisch an der steigenden Lebenserwartung orientiert. Gleichzeitig sollte das Renteneintrittsalter flexibler gestaltet werden, sodass langjährig Versicherte früher in Rente gehen können, ohne das System zu überlasten. Für körperlich stark belastende Berufe könnte eine Berufsgruppenrente unterschiedliche Lebenserwartungen berücksichtigen und damit Akzeptanz für strukturelle Anpassungen schaffen. Langfristig erscheint eine kapitalgedeckte Pflichtversicherung für alle Bevölkerungsgruppen sinnvoll, um die finanzielle Basis zu verbreitern und die Abhängigkeit von Grundsicherungsleistungen zu begrenzen.

Fazit:
Die Agenda 2035 zeigt, dass stabile Sozialversicherungssysteme eine Voraussetzung für wirtschaftliche Dynamik, Investitionen und Standortattraktivität sind. Ohne Reformen drohen massive Beitragserhöhungen, bis zu einer Million zusätzliche Arbeitslose und jährliche gesamtwirtschaftliche Schäden von über 100 Mrd. Euro. Mit einem ausgewogenen Maßnahmenmix – kombiniert aus Effizienzsteigerungen, neuen Finanzierungsquellen, klaren Prioritäten und sozial ausgewogenen Übergangsregeln – kann der Sozialstaat zukunftsfähig gemacht werden. Strukturreformen sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und entscheidend, um Wohlstand, Generationengerechtigkeit und die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherung langfristig zu sichern.

Hinweis zu den Meinungsbeiträgen

Die in diesem Meinungsbeitrag geäußerten Ansichten und Standpunkte repräsentieren ausschließlich die persönlichen Meinungen der jeweiligen Expertinnen und Experten und nicht die offizielle Position der GVG (Gesellschaft für die Versicherungswissenschaften und -gestaltung e.V.). Die GVG ist eine konsensbasierte Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Debatten über verschiedene sozialpolitische Themen anzustoßen. Die Veröffentlichung dieser Meinungsbeiträge dient dem Zweck, unterschiedliche Standpunkte und Ansichten in die Diskussion einzubringen. Die GVG bleibt neutral und achtet auf eine Ausgewogenheit der Perspektiven.